erinnerungskultur?

May 31, 2025

[...] you who build these altars now to sacrifice these children you must not do it anymore a scheme is not a vision and you never have been tempted by a demon or a god

-Leonard Cohen, Story of Isaac


ich war letzten freitag bei einer panel diskussion zur deutschen erinnerungskultur in der spore. danach ging ich nachdenklich nach hause.

als deutscher wundert es mich nicht wirklich, dass nur wenige hier gegen israel aufsprechen oder auf die strasse gehen. israel-kritik kostet hier karrieren - und wenn leitmedien und einflussreiche menschen schweigen, dann fehlen dem rest der bevölkerung die referenzen.

mittlerweile werden israel-kritische stimmen auch bei uns langsam lauter aber das liegt schlicht daran, dass die brutalität in gaza einfach ausmasse erreicht hat, die es unmöglich macht weiter die augen zu verschliessen.

was wir gelernt haben – oder glauben, gelernt zu haben

gleichzeitig rühmen wir uns in deutschland gern für unsere erinnerungskultur. wir wollen viel gelernt haben aus dem faschismus, aus dem holocaust - aber was eigentlich?

die ns-zeit hat uns gezeigt, wohin es führen kann, wenn menschen wegen ihrer zugehörigkeit zu einer minderheit diskrimiert, verfolgt, vertrieben und kaltblütig ermordet werden. und auch, dass so etwas "nie wieder" passieren darf. der holocaust hat uns gezeigt, wohin denken in ethnischen kategorien ultimativ führt.

was auch unbestritten ist: die erkenntnis, dass eine radikale minderheit und eine schweigende mehrheit ausreichen, um ein system zu kippen. wenn wir "nie wieder" als kollektiv sagen, hab ich das immer auch als aufforderung an uns selbst (die oft schweigende mehrheit) verstanden, aufzustehen.

ich denke, diese lehren würden fast alle deutschen so unterschreiben.

wo endet unser einfluss?

unser "nie wieder" begrenzen wir dabei in der regel auf unser politisches leben in deutschland. gegen rechts steht die mitte der gesellschaft (noch) auf. gegen die afd sind letztes jahr millionen deutsche auf die strasse gegangen. die bedrohung wird ernst genommen und überall ausgiebig diskutiert.

wenn anderswo auf der welt der faschismus erstarkt, äußern wir natürlich unsere sorge – aber wir sehen darin selten eine verbindung zu unserer eigenen geschichte. das ist nicht unsere verantwortung - die endet an unseren grenzen.

aber wie stehen wir zu dem fall, wenn wir uns als land aktiv an anderen konflikten beteiligen?

was wir gern übersehen

kriege werden durch geld, durch material, durch waffen entschieden: die ukraine würde ohne europäische unterstützung nicht mehr stehen, die kurden hätten ISIS ohne amerikanische waffen nicht zurückschlagen können. niemand würde das bezweifeln.

surprise, surprise - das gilt auch für israel. 99% der israelischen waffenimporte kommen aus nur 2 ländern: den usa (69%) - und ja, deutschland (30%).

wir sind israels wichtigste verbündete und haben bis heute den kurs der israelischen regierung vollumfänglich unterstützt. es regt sich zwar langsam auch in unseren regierungskreisen kritik, aber von echten massnahmen fehlt jede spur.

die israelische linke ist zu schwach, um einen politischen wandel von innen herbeizuführen. internationaler druck ist die einzige möglichkeit netanyahu, ben-gvir, smotrich und co in ihrem wahnsinn zu stoppen.

es geht nicht um die geiseln

es ist naiv zu glauben, es ginge hier noch um die befreiung der 20 verbliebenen geiseln oder den 7. oktober. die religiös-fundamentalistisch motivierte regierung hat es selbst etliche male gesagt - das ziel ist die ethnische säuberung von gaza und der westbank.

die zahl der kriegsopfer in gaza ist um ein vielfaches höher als die 54.677 opfer, die bisher mit namen von den wenigen verbliebenen krankenhäusern identifiziert wurden. berücksichtigt man all die, die noch unter den trümmern liegen und die, die durch indirekte auswirkungen des krieges starben, liegen die zahlen 4-10 mal so hoch. das heisst auch, dass das ziel der israelischen rechten in israel - die ethnische säuberung gaza's mit anschliessendem settlement durch jüdinnen und juden - bereits gefährlich weit fortgeschritten ist.

das israelische militär versucht aktuell alle palästinenser*innen in einem kleinen gebiet an der ägyptischen grenze zusammen zu pferchen und hofft, dass das leid in diesem kleinen gebiet irgendwann so gross ist, dass die arabischen nachbarn ihre grenzen für die verbliebenen palästinenser*innen öffnen.

gemeinsam mit den usa halten wir den knopf in der hand, der dieses leid beenden könnte – und drücken ihn nicht. wir (und auch die israelische gesellschaft) werden irgendwann aufwachen und erkennen, was dort wirklich passiert - und wir werden beschämt auf den boden schauen und sagen, wir hätten ja nicht ahnen können...

ich war selbst lange vorsichtig mit dem begriff "genozid" - und nach wie vor denke ich, dass wir alle gut beraten sind mit rechtlichen begriffen jurist*innen und gerichte entscheiden zu lassen. Mittlerweile ist es allerdings so, dass selbst unsere westlichen institutionen in den haag, ebenso wie die meisten genozid forscher*innen, davon ausgehen, dass das urteil des ICC bestätigen wird, dass in gaza vor unseren augen ein genozid stattfindet.

wir reden gern über antisemitismus - nur nicht so gern über den eigenen

der antisemitismus bei uns und überall auf der welt nimmt ohne zweifel zu. mir bereitet das sorgen - vielen deutschen geht das so.

doch anstatt wirklich etwas gegen den antisemitismus zu tun, fokussieren wir uns lieber auf politisch opportune scheinprobleme. die politik ist sich sicher, die sündenböcke für unser antisemitismus problem ausfindig gemacht zu haben. es seien der "importierte antisemitismus" der migrant*innen und der israel-hass der linken student*innen, den es mit aller gewalt zu unterdrücken gilt. dann wird das schon wieder mit unserem antisemitismus-problem.

numbers please

schaut man auf die zahlen, zeichnet sich ein anderes bild ab. in den 10 jahren vor dem aktuellen gaza krieg (jahre in denen deutschland viel zuwanderung aus dem arabischen raum hatte) sieht die statistik wie folgt aus:

2012: von 1355 als politisch-motivierte und als antisemitisch-identifizierbare straftaten entfielen 1314 auf rechte ideologie (97%), 3 auf linke ideologie und 38 auf foreign/religious ideology. in 2022 ein ähnliches bild: von 2298, 2185 auf rechte ideologie (95%), 8 auf linke und 101 auf foreign/religious ideology (zahlen vom BKA hier).

die faktenlage ist also klar, über 95% unseres antisemitismus-problems ist hausgemacht und kommt von rechts.

und das sollte uns nicht verwundern, denn die idee, dass juden die welt beherrschen und für all unsere probleme verantwortlich seien ist eine ur-europäische idee. zwar wurde das jüdische volk auch im arabischen raum (genauso wie andere minderheiten) lange diskriminiert, aber angst vor diesem volk und entsprechende vernichtungsfantasien sind ein europäisches exportgut.

(wichtig: seit dem gaza krieg gibt es auf jeder israel-kritischen demonstration verhaftungen, die als politisch motivierte antisemitische straftaten aufgezeichnet werden. entsprechend verzerrt werden die kommenden antisemitismus reporte aussehen.)

brutale ironie

all das sorgt für eine paradoxe entwicklung: indem israel beansprucht, für das jüdische volk zu sprechen, und gleichzeitig eine so grausame kriegspolitik verfolgt, verstärkt es die wirkung antisemitischer stereotypen.

und wir, die wir trotz massiver menschenrechtsverstöße weiter unterstützung leisten, verschärfen diese vorurteile nur. viele menschen sehen keine andere erklärung mehr für unsere doppelmoral – israel wirkt unantastbar, die welt schaut zu. der weg von hier zu antisemitischen gedanken ist dann nur noch sehr kurz.

der israelische philosoph omri böhm bringt das gut auf den punkt:

[…] das alles sind wichtige und folgenschwere Sorgen, und es gibt nur eine mögliche, vernünftige Antwort auf sie: Äußert eure Kritik, sagt, was ihr denkt, kritisiert und lasst euch kritisieren. Lasst das Licht der öffentlichen Debatte dazu beitragen, ein rationales Urteil über den jüdischen Staat zu fällen. Es nicht zu tun, macht den Juden zum gefährlichen Anderen; die Angst, kritisiert zu werden, ist bereits mit dem Mythos von der jüdischen Macht behaftet. Nur eine vernünftige Perspektive auf den jüdischen Staat in einer Öffentlichkeit, die diesen Staat als normalen Gegenstand einer Debatte behandelt, kann den Antisemitismus überwinden.

hoffnung

es bewegt sich was - aber wir müssen uns beeilen. insbesondere in deutschland brauchen wir mehr stimmen aus der mitte der gesellschaft, die aufstehen.

es ist nie zu spät zu lernen - ich würde mir wünschen, dass wir bilder wie in den haag oder london sehen. wo hunderttausende aus allen schichten der gesellschaft für frieden demonstrierten, friedlich und ohne polizeigewalt. der wandel in der öffentlichen wahrnehmung des krieges verändert die politik. wir alle spielen eine rolle dabei.